Kulturen des Wahnsinns
Schwellenphänomene der urbanen Moderne (1870-1930)
Ziel des Forschungsverbundes ist es, eine moderne Kulturgeschichte des Wahnsinns zu entwickeln. Es werden jene Diskurse, Praktiken und Techniken untersucht, mit denen der Wahnsinn zwischen 1870 und 1930 in die Gestaltungen und Vielfalt unseres modernen Verständnisses ausdifferenziert wurde.
Wir betrachten „Wahnsinn“ als Feld einer Neubestimmung von Subjektivität und Individuation, die sich in den Jahren zwischen der Gründung des Deutschen Reiches und dem Vorabend des Faschismus vollzog und den Beginn einer „urbanen Moderne“ markiert. Wir untersuchen „Wahnsinn“ unter dem epistemologischen Ansatz eines Schwellenraumes, der sich für einen interdisziplinären Zugriff anbietet, da er es erlaubt, Ausdrucks-, Regulierungs- und Diskursivierungsformen im urbanen Setting zu analysieren. übergangs- oder Schwellenphänomene markieren die Aushandlungsbereiche sehr unterschiedlicher Wissensräume und soziokultureller Lebens- und Erfahrungsbereiche: Biographisch können sie von den Betroffenen und ihren Angehörigen als Einbruch und Dekompensation des Alltags erlebt und verarbeitet werden, politisch von Fürsorge- und Sozialeinrichtungen in Interventions- und Unterstützungsstrategien bürokratisiert werden, institutionell von Heilanstalten durch administrative Regelwerke verwaltet und medizinisch schließlich als psychiatrische Symptomatik konzeptualisiert werden.
Schwellenphänomene des urbanen Wahnsinns werden aber auch in der Literatur, der Malerei und der bildenden Kunst dargestellt und anhand ästhetischer Kriterien ausgehandelt, in Theater, Film und Musik inszeniert und performativ vermittelt, ebenso in Bohèmekulturen und Verhaltensstilen artikuliert, als unheimliche Instanz des übersinnlichen im Okkulten ausgemacht oder auf die Figur des Künstlers projiziert. Anhand der Analyse von Wert- und Handlungsmustern in diesen Schwellenbereichen werden die komplexen Interaktionen zwischen Kranken, Angehörigen, engagierten Laien, teilnehmender öffentlichkeit, Fürsorgevertretern, städtischen Beamten, Geistlichen, Künstlern, Kulturkritikern und schließlich Ärzten und Wissenschaftlern erfasst. Diese Multiperspektivierung der Schwellenphänomene rekonstruiert die modernen Umgangsweisen mit Wahnsinn und erlaubt dessen Variationen in ihrer kulturellen Wirkmächtigkeit zu untersuchen.
Das Verbundprojekt zielt auf die historisch-epistemologische Topographie jener Schwellenphänomene, die den Wahnsinn als urbanes Phänomen in seinen diskursiven, institutionellen und medialen Dimensionen entfalten. Es erschließt die Interferenzen zwischen Subjekt- und Kulturgeschichte, zwischen Wissen und Wahn, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, und eröffnet folglich sehr unterschiedliche Erklärungs-, Deutungs-, Repräsentations- und auch Sinnmuster, die aus den Differenzen kultureller Milieus entstehen und dem Bedeutungsraum von Wahnsinn in der sich entfaltenden Großstadtkultur bilden.